Dorf ohne Rathaus
„Der Ort ist arm . . . Noch fehlt es hier an einem Rathaus, an einer Orgel – eine Feuerspritze hat der Ort erst neuerlich bekommen“, so der Eintrag ins Protokoll einer Schulvisitation im Jahre 1793.
Doch sollte es noch bis 1844 dauern, bis Nehren sein Rathaus erhielt. Bis dahin führten die Schultheißen sämtliche Amtsgeschäfte von ihrer Wohnung aus. Schüler und Lehrer litten allerdings unter der Lage der Schule neben der Kirche: Der benachbarte Friedhof verströmte bei Regenwetter einen unerträglichen Verwesungsgeruch. So beschloss der Gemeinderat, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und einen Neubau weit weg vom Friedhof mit Klassenzimmern, Lehrerwohnungen und Räumen für ein eigenes Schultheißenamt zu errichten.
1841 kaufte die Gemeinde ein Grundstück etwa in der Mitte zwischen den alten Ortskernen von Nehren und Hauchlingen (siehe Abb. 1, Flurkarte). Per Zeitungsanzeige rief Schultheiß Martin Wagner Handwerker zur Abgabe von Angeboten auf und setzte eine „Abstreichverhandlung vormittags um 10 Uhr“ in seiner Wohnung an. Man nahm die Dienstleister offenbar sehr genau unter die Lupe:
„Die zur Übernahme der Arbeiten lusttragenden Handwerkerleute müssen sich vor Beginn der Verhandlung durch oberamtliche Zeugnisse über ihre Fähigkeit zu dem Geschäfte selbst, so wie zu der Coutionsleistung auszuweisen haben, widrigenfalls sie von dem Abstreiche ganz ausgeschlossen werden müßten.“
Offenbar wurden fähige Handwerker gefunden, denn 1844 eröffnete das repräsentative „Schul- und Rathaus“.
Noch immer wohnten die Lehrer in der Schule, noch immer bildete der Schulalltag eine muntere Klangkulisse für die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters.
Schulmeister Johann Conrad Schneider
Der Umzug ins neue Schul- und Rathaus fiel in die Dienstzeit von Johann Conrad Schneider (1791 – 1877). 54 Jahre lang, bis zum 77. Lebensjahr, förderte er seine Schüler nach Kräften. So sorgte er dafür, dass Ernst Imanuel Wulle (1832 – 1902), Gründer der gleichnamigen Brauerei, eine Lehrstelle als Bierbrauer in Stuttgart bekam. Im Ort war Schneider beliebt, hoch geachtet und ein Ratgeber in Lebenslagen. Anlässlich seines 50. Dienstjubiläums im Jahre 1864 verlieh ihm König Wilhelm I. die goldene Zivildienstmedaille. Die Gemeinde, mit seinen privaten Vorlieben vertraut, zeigte sich mit einer silbernen „Schuppdabakdoßen“ erkenntlich.
Anlässlich seines Todes am 28. September 1877 verfasste ein Zeitgenosse diese Zeilen:
Hier sei es bekennet:
Was ihr euer nennet
An Einsicht und Wissen,
hat er sich beflissen,
recht in euch zu legen!
Er hat, euch zu pflegen,
keine Zeit versäumet,
keine Zeit verträumet!
Denkt heut all der Lehren,
die ihr durftet hören!Die Johann-Conrad-Schneider-Straße im westlichen Nehren erinnert noch heute an diese ortsbekannte Persönlichkeit.
Die Schule geht, das Rathaus bleibt
Rund fünfzig Jahre nach dem Einzug machte sich im Schul- und Rathaus Raumnot breit, denn die Schülerzahlen wuchsen. Sollte man ein neues Rathaus bauen und der Schule das Feld überlassen? Oder umgekehrt? 1905 stimmte der Gemeinderat „nach gründlicher Überlegung“ dem Bau eines neuen Schulhauses zu. 1908 zogen die Schüler in ihr neues Domizil in der Wilhelmstraße um (mehr zur Schule auf der Geschichtspfad-Tafel 11). Ganz unter sich waren Bürgermeister und Verwaltung noch immer nicht: Zwei Lehrerwohnungen verblieben im Rathaus und Missetäter steckte man weiterhin in den Ortsarrest unterm Dach. Aus Brandschutzgründen wurde er nach Jahren ins Erdgeschoss verlegt. Heute noch erinnert das vergitterte Fenster neben dem Haupteingang daran.
Eines der schönsten Rathäuser im Kreis
1958 leitete Bürgermeister Franz Fecht den umfassenden Umbau des Rathauses. Bei der Festsitzung zur Wiedereröffnung am 15. Juli 1960 befand Landrat Hermann Zahr, dass „das Nehrener Rathaus mit zu den schönsten des Kreises gehöre“.
Gut 50 Jahre später machte die Gemeinde ihr Rathaus fit fürs 21. Jahrhundert: barrierefrei, mit Bürgerbüro und einer Elektrik auf der Höhe der Zeit. Die alten Anlagen hatten zu Fehlströmen, Ausfällen und beinahe zu einem Brand geführt.
2012 fassten der Gemeinderat und Bürgermeister Egon Betz den Baubeschluss. Während der sehr grundlegenden Sanierung zog die Verwaltung um und arbeitete im ehemaligen Bürogebäude der Firma Niromet GmbH & Co. KG (vormals Küchen-Rilling, Reutlinger Straße). Das Rathaus, wie es jetzt zu sehen ist, eröffnete am 20. November 2014.
Bürgermeister Paul Heyd
Paul Heyd (1923 – 1944) scheint ein Musterbeispiel schwäbischer Sparsamkeit gewesen zu sein. Als die Türklingel beschädigt war, reparierte er diese höchstpersönlich, indem er den abgegangenen Knopf durch ein „Arzneifläschchen-Pfröpfchen“ ersetzte. Ein Nachbar reimte daraufhin: „Der Schultes ischt en armer Tropf, hott statt’r Klingel bloß an Pfropf.“
Seine Schlagfertigkeit stellte Heyd sogar in einer gefährlichen Situation unter Beweis: Als das Eingangsportal saniert wurde, löste sich ein Stein im Gewölbe und donnerte direkt vor ihm zu Boden, Heyd kam nur knapp mit dem Leben davon. Der Schultes nahm den Vorfall als gutes Omen: Weil er nie einen Schritt zu weit gehe, sagte er, könne er immer wieder drohenden Gefahren glücklich entgehen.
Paul Heyd hat nicht nur industrielle Ansiedlungen gefördert, sondern war auch Initiator und Mitbegründer einiger Vereine. Während seiner Amtszeit wurden die Verkehrsverhältnisse bei der Bahn, beim Straßenbau und in der Landwirtschaft verbessert.
Bürgermeister Franz Fecht
Franz Fecht war von 1949 an 30 Jahre lang Bürgermeister der Gemeinde. Unter seiner Federführung ist es gelungen, die Gemeinde Nehren aus der schwierigen Nachkriegszeit zu ihrer heutigen Struktur zu entwickeln, den Charakter des Dorfes weitgehend zu erhalten und so das Ortsbild zu bewahren. Sein Engagement in der Gemeinde, in überdörflichen Bereichen, Verbänden und Gemeinschaften wurde 1968 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande anerkannt. Nehren setzte ihm ein bleibendes Denkmal und nannte 1984 anlässlich der Einweihung des Feuerwehrhauses die hier vorbeiführende Straße „Franz-Fecht-Straße“.
Die Bürgermeister von Nehren
Der erste namentlich bekannte Schultheiß war Auberlin Schelling, Vogt genannt, im Jahr 1470. Bis zum 24. Schultheiß (Martin Wagner, Schuhmacher und Gerichtsschreiber, im Amt von 1823 bis 1844) führten die Ortsvorsteher die Dienstgeschäfte in der eigenen Wohnung.
24. 1823 – 1844
Schultheiß Martin Wagner, Schuhmacher und Gerichtsschreiber; in seine Amtszeit fiel der Bau des Schul- und Rathauses.25. 1844 – 1846
Schultheißenamtsverweser Schelling26. 1846 – 1847
Schultheißenamtsverweser Fauser27. 1847 – 1852
Schultheiß Jakob Friedrich Brucker, Wundarzt28. 1853 – 1855
Schultheiß Jacob Fauser, Schuhmacher29. 1856 – 1874
Schultheiß Michael Steimle, Bauer30. 1875 – 1880
Schultheiß Johann Georg Vollmer, Landjäger, Stationskommandant31. 1880 – 1899
Gottlieb Schneider, Bauer32. 1899 – 1906
Wilhelm Graze, erster fachlich vorgebildeter Bürgermeister33. 1907 – 1922
Karl Louis August Haßberg, fachlich vorgebildeter Bürgermeister34. 1923 – 1944
Paul Heyd, fachlich vorgebildeter Bürgermeister35. 1945
Eugen Dongus, Lehrer, für 3 Monate kommissarisch von der französischen Besatzungsmacht eingesetzt36. 1945 – 1948
Wilhelm Keller, Landwirt und Fabrikant am 1. September 1945 kommissarisch von der französischen Besatzungsmacht eingesetzt, bei den ersten freien Wahlen am 15. September 1946 für zwei Jahre zum Bürgermeister gewählt37. 1949 – 1979
Franz Fecht, erster Bürgermeister des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes, Diplom-Verwaltungswirt (FH)38. 1979 – 1995
Wolfgang Ettwein, Diplom-Verwaltungswirt (FH)39. 1995 – 2011
Werner Landenberger, Diplom-Verwaltungswirt (FH)40. seit 2011
Egon Betz, Diplom-Ingenieur (FH Forst)
Dorfchronist und Vikar Friedrich August Köhler
Friedrich August Köhler (1768–1844) ist ein ausgesprochener Glücksfall für die Nehrener Geschichtsforschung. Er hinterließ der Gemeinde eine umfassende Dorfchronik, aus dessen Quellen auch der Geschichtspfad schöpft. Köhler wurde 1768 in Hornberg im Schwarzwald geboren. Nach dem Studium in Tübingen erhielt er 1792 seine erste Stelle als Vikar in Nehren und wohnte im alten Pfarrhaus in der Hauchlinger Straße 22. Seine viele Jahrzehnte später verfassten Aufzeichnungen beginnen mit den Worten:
„In Neren war mein Vater von 1784 bis 1801 Pfarrer und ich gegen zehn Jahre sein Vikar. Hier war es, wo ich den heiteren Vorsommer meiner Erdentage verlebte, auf die ich noch als Greis von 70 Jahren mit Ruhe und Dank gegen Gott zurückblicke. Auf dem Kirchhofe dieses Dorfes ruhen die sterblichen Hüllen meines Vaters und mehrerer meiner Geschwister, und dies alles macht mir das Andenken an diesen Ort so wert, daß ich, um es auch meinen Söhnen zu erhalten, noch im 71ten Jahre meines Alters die schon vor 40 Jahren gesammelten Notizen ordne und eine Beschreibung und Geschichte von Neren niederschreibe.“
So griff Köhler, seinerzeit Pfarrer in Marschalkenzimmern und Mitglied des Vereins für Vaterlandskunde, also zur Feder. Auf der Grundlage der Bihnerschen Chronik von 1662–1749, die er ergänzte und mit Registern versah, entstand 1838 das Werk: „Neren, Pfarrdorf im Steinlachtal, Topografie und Chronik“.
Text: Herbert Hägele