Widerstand gegen Hitler
30. Januar 1933, 12 Uhr. Der Rundfunk gibt bekannt, dass Reichspräsident Hindenburg in Berlin den Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hat. Einen Tag später versammeln sich Mitglieder und Sympathisanten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) hier vor diesem Haus. Die Werkstatt von Glasermeister August Nill, seinerzeit Vorsitzender der Kommunisten, war oft Treffpunkt ihrer Versammlungen. Von hier aus marschieren sie gemeinsam in den Nachbarort Mössingen, um an einer Widerstandsaktion gegen die Machtübergabe an die Nazis teilzunehmen. Dort haben die örtliche KPD und die Arbeitervereine beschlossen, einem Aufruf der KPD-Landesleitung zum Generalstreik zu folgen. Von der Langgaß-Turnhalle ziehen Demonstranten zur Textilfabrik Pausa, wo zuvor die Beschäftigten mehrheitlich für eine Teilnahme am Generalstreik gestimmt haben.
In den beiden anderen großen Betrieben, der Trikotfabrik Merz und der Buntweberei Burkhardt, gestaltet sich die Sache schwieriger. Die Bereitschaftspolizei aus Reutlingen trifft schließlich ein, die Demonstration mit 900 Teilnehmern wird aufgelöst.
Harte Strafen für die Aufständischen
Viele Demonstranten werden in den nächsten Tagen verhaftet, 98 angeklagt, 92 von ihnen wegen „Landfriedensbruch“, sechs Rädelsführer wegen „Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit erschwertem Landfriedensbruch“. Tatsächlich verurteilt werden 77 Männer und drei Frauen; von den 22 Nehrener Teilnehmern am Generalstreik werden 19 verurteilt. Sie erhalten Haftstrafen zwischen drei Monaten und zweieinhalb Jahren. Zudem werden die Angehörigen der „Zuchthäusler“ von den Nazis in der Folgezeit beständig schikaniert, auch die Kinder in der Schule.
Der Widerstand gerät in Vergessenheit
1955 stellte das Oberlandesgericht Stuttgart in einem Wiedergutmachungsprozess fest: „Wäre die Aufforderung zum Generalstreik überall befolgt worden, so wäre diese Maßnahme durchaus geeignet gewesen, das angestrebte Ziel, die Regierung Hitlers lahmzulegen und zum Rücktritt zu zwingen, zu erreichen.“ Das bedeutete auch: vollständiger Freispruch von Landesverrat und Hochverrat. Und dennoch erfuhr der Generalstreik in der Nachkriegszeit nicht die Würdigung, die er verdient hätte. Viele Jahre galt es sogar als Makel, Teilnehmer des bedeutendsten historischen Ereignisses im Steinlachtal gewesen zu sein. Die Frage bleibt: Warum leisteten so wenig Menschen zu diesem frühen Zeitpunkt Widerstand?
„Rotes Mössingen“ und „rotes Nehren“
Weil die landwirtschaftlichen Flächen aufgrund der Realteilung immer kleiner wurden, herrschte in Nehren nicht anders als im ganzen Steinlachtal große Armut. Handwerker mussten weite Reisen unternehmen, um ihre Ware loszuwerden. Viele wanderten für immer aus. Einige fanden Arbeit im Ausland – und kamen als Sozialdemokraten zurück. Andere gerieten am Ende des Ersten Weltkriegs mit revolutionären Ideen in Berührung. Einen SPD-Ortsverein gab es seit 1907 in Nehren, es folgten eine Konsumgenossenschaft, ein Arbeitersportverein und ein Arbeitergesangverein. Solche konkreten Beispiele von alltagsnahem Sozialismus bildete die Stärke der linken Bewegung im Steinlachtal. Man verstand es, die Menschen auf diese Weise mit einem gelebten Sozialismus bekanntzumachen, der nicht in abstrakten Formeln hängen blieb. Auch auf Kulturarbeit legten die Sozialisten großen Wert. Sie studierten das Bauernkriegsdrama vom „Armen Konrad“ von Friedrich Wolf ein, das auf einer eigens angelegten Waldbühne mehrfach mit großem Erfolg aufgeführt wurde.
Teilnehmer des Generalstreiks aus Nehren, die 1933 angeklagt wurden
Karl Buck, Christian Dürr, Paul Dürr, Wilhelm Essich, Paul Fauser, Jakob Hartmayer, Karl Hartmayer, Wilhelm Hartmayer, Robert Kern, Ernst Kuttler, Heinrich Maier, August Nill, Hans Nill, Reinhold Nill, Paul Saur, Hans Schneider, Alfred Staiger, Karl Steimle, Adolf Vollmer, Josef Wener, Friedrich Wulle, Konrad Zürn.
Text: Jürgen Jonas