Die Kappel als Ortsausgang
Der südöstlichste Teil Alt-Nehrens diesseits von Wert- und Luppachstraße wird seit alters her als „in der Kappel“ bezeichnet. Die Kappelstraße überwindet einen langgestreckten flachen Höhenzug zwischen dem heute verdolten Luppbach im Nordwesten und dem Obwiesbach im Südosten. Während die Kappel heute lediglich den Ortsausgang Alt-Nehrens Richtung Kirschenfeld markiert, war sie, wie Andreas Kiesers Forstkarte von 1683 zeigt, in früheren Zeiten Beginn von Straßen nach Mössingen, Gönningen und zur Burg First (Abb. 1). In Teilen sind diese Wege auch noch auf den Flurkarten der 1840er Jahre nachvollziehbar. Aus Richtung Tübingen-Dusslingen hatte die Achse Hauchlinger Straße – Hauptstraße – Kappelstraße einst Verbindungsfunktion zu den südlich und östlich gelegenen Orten am Albtrauf. So wird verständlich, dass sich Hauchlingen-Nehren zu guten Teilen als Straßendorf entlang dieser Achse ausgebildet hat.
Tatsächlich spiegeln sich in den alten Verbindungen nach Burg First und Gönningen auch herrschaftsgeschichtliche Zusammenhänge. Die Herren von Neren, die zwischen dem späteren 13. und dem späteren 14. Jahrhundert auf der vom Tafelstandort nur 40 Meter entfernten Burg in den Weihergärten saßen (vgl. Tafel 9), dürften im 13. Jahrhundert Ministeriale der bei Gönningen residierenden Stöffeln gewesen sein; die Verbindung zu Burg First, mit der die Herren von Nehren das Sparrenwappen gemeinsam haben, könnte sogar noch in ältere Zeiten zurückreichen.
Kapelle und Gräber
Die Kappel hat ihren Namen mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer hier einstmals bestehenden, aber schon früh abgegangenen Kapelle. Vermutlich gehörte zu ihr auch ein Bestattungsplatz. Die erste Nachricht hierüber liefert Ortschronist Köhler 1838: „Der Besitzer eines nicht ferne von der ehemaligen Burg befindlichen Hauses, das vermuthlich auf dem Platze der vormaligen Kapelle stand, grub in seinem Garten Gräber, Menschenschädel und eine besondere Art Steigbügel aus, und als er einen Keller graben ließ, kam man auf in den Schiefer gehauene Gräber.“ Nach Karl Steimle handelt es sich um das Haus Kappelstraße 16, er selbst hat beim Umbau von Scheuer und Stall im Jahre 1920 diese (oder neuerlich gemachte?) Skelettfunde noch gesehen.
Die Nehrener Kapelle dürfte zu keiner Zeit Pfarrkirche gewesen sein – anders als St. Veit in Hauchlingen (vgl. Tafel 2). Bis zur kirchlichen Vereinigung mit Hauchlingen im Jahre 1504 war Nehren nach Ofterdingen eingepfarrt, dort wurde auch bestattet (vgl. Tafel 5). Eine Zugehörigkeit der Bestattungen zur abgegangenen Kapelle vorausgesetzt, kann es sich hier kaum um einen Gemeindefriedhof gehandelt haben. Viel eher fassen wir hier eine mit der nahen Burg verbundene Adelsgrablege. Das sekundär im Kellergeschoss des 1696 erbauten Hauses Kappelstraße 9 verbaute Spitzbogenfenster könnte durchaus als Ostfenster eines bescheidenen Kirchenbaus des späteren 13. Jahrhunderts gedient haben – derjenigen Zeit also, zu der auch die spätmittelalterliche Burg in den Weihergärten angelegt wurde. Möglicherweise wurde in der Kappel also eine Grablege der Herren von Neren des 13./14. Jahrhunderts angeschnitten. Ob darüber hinaus eine ältere Bestattungsschicht vorliegen könnte – passend zur älteren Siedlungsphase auf der Burg (vgl. Tafel 9) – und ob zu Zeiten möglicherweise auch familiär verbundene Adlige mit Wohnsitz außerhalb Nehrens hier bestattet wurden, ist heute noch ganz offen. Ein Hinweis auf Letzteres könnte die Abteilung „Totenweg“ im Wald im östlichen Teil der Gemarkung geben – auf die Verbindungen zu Burg First und nach Gönningen wurde oben bereits verwiesen.
Alamannische Reihengräber in der Kappel?
Die in der archäologischen Literatur vertretene zeitliche Einordnung der Gräber in die Merowingerzeit ist vermutlich nicht korrekt. Bereits mit deutlichem zeitlichen Abstand von der Entdeckung der Gräber im 18. Jahrhundert bezeichnete Eduard Paulus die Nehrener Gräber 1877 erstmals als „Reihengräber“, Walther Veeck führte die Gräber in den „Alamannen in Württemberg“ (1931) dann bereits unter „Steinplattengräber“, womit die Grablege ins 7. Jahrhundert datierbar wäre. Keine dieser Präzisierungen von Köhlers Bericht ist durch irgendwelche Dokumentationen gestützt.
Aufgrund des Fehlens von typischen merowingerzeitlichen Grabbeigaben und wegen der unmittelbaren Nachbarschaft zur abgegangenen Kapelle ist eine Zugehörigkeit zu dieser und damit eine spätere Datierung sehr viel wahrscheinlicher.
Entwicklung der Bebauung in der Kappel
In der Kappel kann die in ganz Nehren zu beobachtende Entwicklung von traufständiger Bebauung hin zu den Winkelhakengehöften mit giebelständigen Wohnhäusern und dahinter liegender Scheuer beispielhaft nachvollzogen werden (vgl. Tafeln 2 und 6a). Der älteste Befund eines traufständigen Hauses ist ein archäologischer: Beim Bau des Vordachs zum Gebäude Kappelstraße 15 wurde mutmaßlich die Rückwand eines traufständigen Fachwerkbaus erfasst (Abb. 2), der wohl im späten 13. Jahrhundert einer Zufahrt zur neu errichteten Burg weichen musste. Das ortsauswärts anschließende Gebäude Kappelstraße 21 weist in seinem jüngeren südöstlichen Teil wiederverwendetes Bauholz auf, das zu einem noch in mittelalterlicher Technik abgezimmerten Vorgängerbau gehören dürfte, von dem das immer nur teil-umgebaute Haus die traufständige Ausrichtung übernommen haben dürfte. Das mächtige Doppelhaus Schulstraße 2 gehört in seinem südöstlichen Teil in das Jahr 1536. Gut möglich ist, dass das aus Buckelquadern gebildete überformte Geviert, das südöstlich an den giebelständigen Bau Kappelstraße 9 anschließt, ursprünglich ebenfalls als Überrest eines traufständigen Vorgängerbaus zu werten ist (vgl. Abb. 3), der wegen seines wohl der Burg zuzuweisenden Baumaterials wohl ins späte 14./frühe 15. Jahrhundert gehören würde.
Den ersten gesicherten Beleg für einen traufständigen reinen Wohnbau bildet das 1627 errichtete Gebäude Kappelstraße 15, darauf folgt die Doppelscheuer Kappelstraße 11/13, die 1648 errichtet wurde – im Jahr des Westfälischen Friedens, mit dem der 30-jährige Krieg sein Ende fand, der seit den 1630ern auch das Steinlachtal in erheblicher Weise in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die weiteren giebelständigen Wohnbauten in der Kappel gehören ins spätere 17. und ins 18. Jahrhundert (Abb. 4).
Der älteste Befund eines giebelständigen Hauses ist ein archäologischer: Als 2013 in der Kappelstraße 15 ein Vordach angelegt wurde, kam bei den Grabarbeiten ein Trockenfundament zutage (Bild 2a). Es stellt wohl die Rückwand eines älteren traufständigen Fachwerkbaus dar. Dieses Haus wurde vermutlich in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts aufgegeben. Musste es weichen, als die Nehrener Burgherren eine Zufahrt zur Burg bauten?
Die Kappelstraße 21 weist in ihrem jüngeren südöstlichen Teil wiederverwendetes Bauholz auf, das zu einem noch in mittelalterlicher Technik abgezimmerten Vorgängerbau gehören dürfte. Von diesem Bau wurde wohl auch die traufständige Ausrichtung übernommen.
Das mächtige Doppelhaus Schulstraße 2 gehört in seinem südöstlichen Teil in das Jahr 1536.
An Haus Kappelstraße 9 grenzt bergauf ein Geviert aus Buckelquadern an, heute als Vorgärtchen genutzt. Gut möglich, dass es sich dabei ebenfalls um den Überrest eines traufständigen Vorgängerbaus handelt (vgl. Abb. 3). Die Buckelquader stammen wohl vom Abriss der Burg in den Weihergärten. Der mögliche Vorgängerbau der Kappelstraße 9 könnte damit bereits im späten 14. Jahrhundert errichtet worden sein.
Den ersten gesicherten Beleg für einen giebelständigen reinen Wohnbau bildet Kappelstraße 15 (Baujahr 1627). Die dazu (und zum Vorgängerbau Kappelstraße 9) gehörige Doppelscheuer Kappelstraße 11/13 wurde 1648 erbaut.
Die weiteren giebelständigen Wohnbauten in der Kappel gehören ins spätere 17. und ins 18. Jahrhundert (Abb. 4).
Der 30-jährige Krieg
Die Errichtung der beachtlichen Doppelscheuer Kappelstraße 11/13 im Sommer 1648 ist vor dem Hintergrund der enormen Bevölkerungsverluste im 30-jährigen Krieg als große Besonderheit zu werten: Es lässt sich überregional beachten, dass die Bautätigkeit nach dem großen Krieg erst allmählich wieder einsetzt.
Der Krieg erreichte das Steinlachtal im Jahr 1631, als sich am Burgholz bei Tübingen 24.000 Kaiserliche und 16.000 Württemberger gegenüberstanden. Im sogenannten „Kirschenkrieg“ zogen sich die unterlegenen Württemberger vor der Schlacht zurück und es kam zu tagelangen Plünderungen der Steinlachtalgemeinden. Die nächsten Plünderungen im Steinlachtal sind im Umfeld der Schlacht bei Nördlingen 1634 überliefert. 1635, im „schrecklichsten Jahr in der Geschichte Deutschlands“ (Dorfchronist Köhler) starben in Nehren 142 Personen, darunter viele Seuchenopfer und flüchtige Fremde. Im April 1638 entschied sich die verbliebene Bevölkerung Nehrens im Angesicht eines nahenden, 28.000 Mann starken kaiserlichen Heeres, für die Flucht in die nahen Städte. Das entvölkerte Dorf wurde geplündert, die Rückkehr der Bewohner erfolgte zögerlich über Monate. Im Jahre 1640 lebten in Nehren keine 200 Menschen mehr, während in den Jahren 1633 – 39 zusammen 318 Menschen gestorben waren. 1644 wurde Mössingen, vermutlich auch Nehren, von Bayern geplündert, die sich von einer Niederlage bei Freiburg zurückzogen.
Über das letzte Kriegsjahr schrieb Köhler: „1648 waren wenigstens im October noch Leute von Neren auf der Flucht in Tübingen. Durch Schwert, Hunger und Krankheiten waren die Bewohner der Steinlach-Orte um 2/3 Theile geschmolzen. Beinahe kein Stück Vieh war mehr übrig, so daß die Leute Büchelesöl [Bucheckern-Öl] anstatt des Schmalzes gebrauchen mußten. Viele Wohnungen standen leer, viele Felder lagen wüst, viele Menschen, am Hungertod gestorben, hatte man, noch Gras im Munde, an Gehägen und Wegen in den letzteren Jahren gefunden . . .“. Um auch nach dem Friedensschluss im Oktober 1648 fand das Steinlachtal noch keine Ruhe. Wirklich von Frieden konnte man erst mit dem Abzug der kaiserlichen und bayerischen Truppen im September 1649 sprechen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich mutmaßen, dass die inschriftlich genannten Scheuer-Bauherren Michel King (vermutlich abgekürzt für: Kinkhele) und Hans Schneider für die damalige Zeit über besondere Möglichkeiten verfügten. Die Kinkheles, eine heute ausgestorbene Nehrener Ehrbarkeitsfamilie, stellten im 16. Jahrhundert zwei Schultheißen und im 17. Jahrhundert mehrere Richter und einen Heiligen-Pfleger. Die Kinkheles dürften bis Mitte des 17. Jahrhunderts (Richter Sebastian Kinkhele wurde 1645 zwischen Tübingen und Unterjesingen von einem Soldaten erschossen) zu den reichsten Familien im Dorf gehört haben.
Der 30-jährige Krieg
Die Errichtung der beachtlichen Doppelscheuer Kappelstraße 11/13 im Sommer 1648 ist vor dem Hintergrund der enormen Bevölkerungsverluste im 30-jährigen Krieg als große Besonderheit zu werten: Es lässt sich überregional beachten, dass die Bautätigkeit nach dem großen Krieg erst allmählich wieder einsetzt.
Der Krieg erreichte das Steinlachtal im Jahr 1631, als sich am Burgholz bei Tübingen 24.000 Kaiserliche und 16.000 Württemberger gegenüberstanden. Im sogenannten „Kirschenkrieg“ zogen sich die unterlegenen Württemberger vor der Schlacht zurück und es kam zu tagelangen Plünderungen der Steinlachtalgemeinden. Die nächsten Plünderungen im Steinlachtal sind im Umfeld der Schlacht bei Nördlingen 1634 überliefert. 1635, im „schrecklichsten Jahr in der Geschichte Deutschlands“ (Dorfchronist Köhler) starben in Nehren 142 Personen, darunter viele Seuchenopfer und flüchtige Fremde. Im April 1638 entschied sich die verbliebene Bevölkerung Nehrens im Angesicht eines nahenden, 28.000 Mann starken kaiserlichen Heeres, für die Flucht in die nahen Städte. Das entvölkerte Dorf wurde geplündert, die Rückkehr der Bewohner erfolgte zögerlich über Monate. Im Jahre 1640 lebten in Nehren keine 200 Menschen mehr, während in den Jahren 1633 – 39 zusammen 318 Menschen gestorben waren. 1644 wurde Mössingen, vermutlich auch Nehren, von Bayern geplündert, die sich von einer Niederlage bei Freiburg zurückzogen.
Über das letzte Kriegsjahr schrieb Köhler: „1648 waren wenigstens im October noch Leute von Neren auf der Flucht in Tübingen. Durch Schwert, Hunger und Krankheiten waren die Bewohner der Steinlach-Orte um 2/3 Theile geschmolzen. Beinahe kein Stück Vieh war mehr übrig, so daß die Leute Büchelesöl [Bucheckern-Öl] anstatt des Schmalzes gebrauchen mußten. Viele Wohnungen standen leer, viele Felder lagen wüst, viele Menschen, am Hungertod gestorben, hatte man, noch Gras im Munde, an Gehägen und Wegen in den letzteren Jahren gefunden . . .“. Um auch nach dem Friedensschluss im Oktober 1648 fand das Steinlachtal noch keine Ruhe. Wirklich von Frieden konnte man erst mit dem Abzug der kaiserlichen und bayerischen Truppen im September 1649 sprechen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich mutmaßen, dass die inschriftlich genannten Scheuer-Bauherren Michel King (vermutlich abgekürzt für: Kinkhele) und Hans Schneider für die damalige Zeit über besondere Möglichkeiten verfügten. Die Kinkheles, eine heute ausgestorbene Nehrener Ehrbarkeitsfamilie, stellten im 16. Jahrhundert zwei Schultheißen und im 17. Jahrhundert mehrere Richter und einen Heiligen-Pfleger. Die Kinkheles dürften bis Mitte des 17. Jahrhunderts (Richter Sebastian Kinkhele wurde 1645 zwischen Tübingen und Unterjesingen von einem Soldaten erschossen) zu den reichsten Familien im Dorf gehört haben.
Text: Sören Frommer